Eine tapfere Autorin, die viel zu erzählen hat: Rosi Jerusel Foto: Andreas Hansen
Autorin aus Goting schreibt bewegende Biografie:
Das Leben kann sich von einem auf den anderen Tag komplett verändern. Ein Unfall oder eine Diagnose – und schon ist alles anders. Für einen selbst, aber auch für die Angehörigen. Dies musste auch Roswitha »Rosi« Jerusel im Jahr 2016 erleben, die zur Hälfte des Jahres bei Siegen und zur anderen Hälfte in Goting auf Föhr wohnt. Zunächst hatte nach der Rückkehr aus einem Urlaub der Keller unter Wasser gestanden. Ein Dichtungsring der Heizung war dafür verantwortlich gewesen. Der Schaden war schnell behoben, doch plötzlich hatte die Pflegewissenschaftlerin und gelernte Intensiv- und Palliativkrankenschwester Probleme, ihrer Familie beim Skifahren zu folgen. Auch beim Joggen hatte sie deutlich weniger Kraft und unangenehme Hustenanfälle. Als eine erste Untersuchung ihre Lungenfunktion auf nur noch 50 Prozent bezifferte, ließ sie sich in eine Uni Klinik einweisen. Es folgte der Schicksalstag mit der Diagnose: Lungenfibrose. Unheilbar! Einzige Therapiemöglichkeit: Eine Transplantation! Als Folge des Wasserschadens hatten eingeatmete Schimmelpilze das Lungengewebe von Rosi Jerusel völlig zerstört. Auf einmal ist für Rosi Jerusel alles anders. Nur noch ein schnelles, oberflächliches Atmen ist möglich. Dazu Aushusten bis zur völligen Erschöpfung. Wie sie sagt, fühlte sich ihr Brustkorb dabei an, als wäre dieser wie ein Metallgehäuse, welches immer enger und enger zusammengeschraubt wird. Aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen als Intensivschwester beschließt sie jedoch, dass sie einer Transplantation nie zustimmen wird. Die Mutter von zwei erwachsenen Kindern fühlt sich vom Leben reich beschenkt. Wenn sie jetzt abtreten muss, dann ist das eben so. Aber sie denkt auch daran, dass sie in ihrer Karriere erlebt hat, wie sich Dinge bei Patienten plötzlich wundersam zum Positiven verändern, die kognitiv oder auch fachlich nicht erklärbar sind. Es folgt die Entscheidung, sich bei einem Hospiz auf die Warteliste setzen zu lassen. Da sie jedoch merkt, dass ihre Familie sie nicht gehen lassen mochte, lässt sie sich zusätzlich bei Eurotransplant listen.
Ihre damalige, persönliche Stimmung beschreibt Rosi Jerusel als ambivalent. Zunächst muss sie die nicht-invasive Beatmung lernen, nachts kommt es zu Atemstillständen. »Du musst jetzt Abschied nehmen von deinem Leben«, sagt sie sich selbst und schreibt Details zu ihrer eigenen Beerdigung auf, als wäre es ein Kochrezept.
Dann 2021 – ungeachtet der medizinischen Versorgung – noch einmal nach Föhr. Ein letztes Mal in Hedehusum im Strandkorb sitzen, in Goting das Plätschern der Wellen genießen, in Süderende einen Gottesdienst besuchen. Die Lungenfunktion verschlechtert sich von Tag zu Tag weiter, liegt nur noch bei 20 Prozent. Trotzdem immer wieder dieser Husten bis zum Ohnmächtigwerden. Ihre Töchter bittet sie, wenn ihr Ehemann Michel, mit dem Rosi 23 Jahre verheiratet ist, später eine mögliche neue Partnerin haben sollte, dieser offen gegenüberstehen. Dann fragt das Hospiz nach: Möchten Sie kommen? Auf einmal ein zweiter Anruf: Wir haben ein Organ für Sie!! Wollen Sie kommen? Wollen?
Rosi Jerusel connectet mit dem »Architekten im Himmel«. Die Antwort: Du musst fahren! »Du schaffst das!«, sagen Ehemann Michel und die Kinder freudig, aber besorgt. Es folgt der Tag der Lungentransplantation. Kommt es zu den befürchteten Abstoßungsreaktionen? Deutlich spürt Rosi Jerusel, dass viele Menschen an sie denken und für sie beten. Doch zunächst einmal neun Tage ECMO-Beatmung an der Herz-Lungen-Maschine. Dann am 27. August 2021 die ersten tiefen Atemzüge mit der neuen Lunge. Überwältigend! Was für ein lebensbejahender Mensch muss das gewesen sein, diese neue »himmlische« Lunge zu verschenken!
Doch das Leben 2.0 muss erst wieder in Gang kommen. Die Patientin hat, da sie lange beatmet wurde, keine Rumpfstabilität mehr. Sie muss erst wieder das Laufen lernen, beschließt im September 2021 zur allgemeinen Überraschung trotzdem: »Ich gehe in dieser Saison noch auf die Ski-Piste!« Und tatsächlich: Acht Monate und viele Stunden Muskeltraining später steht Rosi Jerusel oben am Start. Die mitangereisten Freunde halten die Luft an. Doch dann kommt die Rekonvaleszentin heruntergewedelt wie immer. Tränen schießen allen in die Augen. Unten wird zusammen geweint.
Durch eine gesunde Lebensweise konnte Rosi Jerusel bis heute die Menge an einzunehmenden Tabletten stark reduzieren. Trotzdem nimmt sie an regelmäßigen Untersuchungen teil um sicherzustellen, dass mit der neuen Lunge alles in Ordnung ist. Ihr eigenes Fazit: Obwohl kein absoluter Kirchengänger, fühle sie eine starke Verbindung zu ihrem Schöpfer. Die Endlichkeit eines jeden Lebens habe längst begonnen, sagt sie. Das Leben bleibe für sie ein Geheimnis, doch habe sie gelernt, ohne jeden Zweifel zu vertrauen. Mit jeder Zelle ihres Körpers genieße sie jeden einzelnen Moment, was auch immer ihr noch passieren möge. Und: An jedem neuen Tag gelte der erste und letzte Gedanke ihrer Organspenderin. Über das Erlebte hat Roswitha Jerusel jetzt ihre Biografie: »Weil jeder Atemzug ein Wunder ist« geschrieben Diese soll medizinischem Personal wertvolle Einblicke geben und zugleich Menschen helfen, die lernen möchten, mit Schicksalsschlägen umzugehen. Das Buch ist im »adeo Verlag« erschienen und kostet 20 Euro als gebundene Fassung.